Fahrrad • E-Bikes • Pedelecs • S-Pedelecs Unfall-Gutachten
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.2021, Verbraucher (Rhein-Main-Zeitung), Seite 37.
Wer zahlt den Schaden am Rad? Von Matthias Trautsch


Es dauert nur fünf Minuten. Kurz die Treppe hoch in die Arztpraxis, um ein Rezept abzuholen. So lange steht das Fahrrad, ein graues Speedbike, angeschlossen an einen Stahlbügel an der Kaiserstraße in der Frankfurter Innenstadt.
Als der Besitzer zurückkehrt, bemerkt er gleich, dass sein Rad schief an dem Bügel lehnt. In der benachbarten Parklücke, die eben noch frei gewesen war, steht jetzt ein großer weißer Kastenwagen. Der Mittvierziger aus Frankfurt will das Schloss aufschließen und bemerkt dabei, dass sich das Hinterrad nicht mehr drehen lässt. Es steht schief und wird von den Bremsen blockiert. Ein genauerer Blick zeigt, dass es sich nicht um eine Kleinigkeit handelt: Die hintere Strebe des Rahmens ist eingedellt.

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Es dauert nur fünf Minuten. Kurz die Treppe hoch in die Arztpraxis, um ein Rezept abzuholen. So lange steht das Fahrrad, ein graues Speedbike, angeschlossen an einen Stahlbügel an der Kaiserstraße in der Frankfurter Innenstadt. Als der Besitzer zurückkehrt, bemerkt er gleich, dass sein Rad schief an dem Bügel lehnt. In der benachbarten Parklücke, die eben noch frei gewesen war, steht jetzt ein großer weißer Kastenwagen. Der Mittvierziger aus Frankfurt will das Schloss aufschließen und bemerkt dabei, dass sich das Hinterrad nicht mehr drehen lässt. Es steht schief und wird von den Bremsen blockiert. Ein genauerer Blick zeigt, dass es sich nicht um eine Kleinigkeit handelt: Die hintere Strebe des Rahmens ist eingedellt.



Dem Frankfurter liegt ein Fluch auf den Lippen, da spricht ihn ein junger Mann an. Er steht, einen Kaffeebecher in der Hand, offenbar schon eine Weile in der Nähe. „Das war der weiße Transporter“, sagt er. Der Kastenwagen habe rückwärts eingeparkt und mit seiner Stoßstange den hinteren Teil des Rads förmlich an den Stahlbügel gequetscht, sodass es einen Sprung in die Höhe gemacht habe. Der Fahrer habe das einfach ignoriert, sei ausgestiegen und weggegangen.

Zwar haben sich in Frankfurt – wie in vielen anderen Städten – 2020 insgesamt weniger Unfälle als in früheren Jahren ereignet, aber das gilt nicht für jene mit Beteiligung von Fahrrädern. In diesem Segment verzeichnet die Unfallstatistik gleichbleibende, bei den E-Bikes stark zunehmende Zahlen. Das dürfte daran liegen, dass immer mehr Menschen mit Fahrrädern und insbesondere mit Pedelecs unterwegs sind. Zugleich geht der Trend zu hochwertigen Zweirädern, weshalb auch die Bereitschaft steigen dürfte, einen Unfall anzuzeigen und Schadenersatz zu fordern.

Bei dem an der Kaiserstraße abgestellten Rad handelt es sich um ein vergleichsweise günstiges Modell, was die Sache aber nicht einfacher macht. Dazu später mehr. Von unschätzbarem Vorteil ist – wie generell bei Verkehrsstreitigkeiten – ein unbeteiligter Zeuge. Umso mehr in diesem Fall, in dem der Geschädigte selbst den Unfallhergang gar nicht beobachtet hat. So aber ruft er unter Hinweis auf den Zeugen die Polizei, die kurz darauf eintrifft. Die Beamten ermitteln über das Kennzeichen den Halter des Transporters, einen Leuchtenhersteller aus dem Kreis Offenbach, der seinen Mitarbeiter kontaktiert und zum Unfallort schickt.

Der Fahrer streitet zunächst ab, dass sein Wagen das Fahrrad beschädigt hat. Mit der Zeugenaussage konfrontiert, sagt er dann, er habe von dem Zusammenstoß nichts bemerkt. Schließlich zieht er sich auf die Position zurück, dass an dem Fahrrad doch gar kein großer Schaden entstanden sei. Tatsächlich mag es so wirken, als sei das Bike mit wenig Aufwand zu reparieren, schließlich ist lediglich das Hinterrad blockiert. Wer sich mit Fahrrädern auskennt, der weiß allerdings, dass ein verbogener Rahmen – wenn überhaupt – nur mit großem Aufwand zu richten ist und wegen der Bruchgefahr ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellt.

Aus Sicht des Eigentümers handelt es sich somit um einen Totalschaden. Wie aber soll er das nachweisen? Ein Freund rät ihm, von einer Fahrradwerkstatt einen Kostenvoranschlag einzuholen, der belegt, dass eine Reparatur nur mit einem Ersatzrahmen möglich und somit unwirtschaftlich wäre. Im Fahrradgeschäft bekommt der Mittvierziger jedoch den Rat, sich an einen Sachverständigen zu wenden.

Während es Kfz-Sachverständige an gefühlt jeder Straßenecke gibt, sind Gutachter für Fahrräder – trotz hoher Unfallzahlen und steigender Werte – noch immer selten. Der Besitzer des grauen Speedbikes wird schließlich bei einem Sachverständigenbüro im Frankfurter Gallusviertel vorstellig. Dessen Hauptgeschäft ist zwar ebenfalls das Prüfen und Schätzen von Autos, allerdings gibt es einen Mitarbeiter, der sich auch mit Fahrrädern auskennt.

Schon bei der Aufnahme der Daten deutet sich an, dass das keine einfache Abwicklung wird. Das Speedbike ist nämlich kein Modell von der Stange, sondern ein Einzelstück, das ein Hobbyschrauber aus teils neuen, teils gebrauchten Teilen nach den Vorstellungen des Besitzers zusammengebaut hat. Rechnungen gibt es nicht, weder für die Komponenten noch für das Rad als Ganzes. Mithin muss der Gutachter nicht nur den Schaden und die potentiellen Reparaturkosten, sondern auch den Wiederbeschaffungswert des Fahrrads bestimmen. Das ist – gemessen an einem vermuteten Wert von wenigen Hundert Euro – ganz schön aufwändig.

Der Sachverständige ist jedoch bereit, den Auftrag anzunehmen. Zwar gehe es um einen kleinen Betrag, aber die Nachfrage nach Fahrrad-Gutachten werde im Zuge des E-Bike-Booms wachsen. Da sei es wichtig, Erfahrungen auch mit ungewöhnlichen Fällen zu sammeln. Dem Besitzer ist dennoch mulmig zumute. Er hat keine Rechtsschutzsversicherung und befürchtet, dass nicht nur die Kosten des Gutachtens, sondern möglicherweise auch die eines Anwalts an ihm hängen bleiben. Der Sachverständige beruhigt: Da der Hergang durch einen Zeugen belegt sei, müsse höchstwahrscheinlich der Unfallgegner das Gutachten bezahlen. Überdies könne er eine Kanzlei vermitteln, die den Fall übernehme.

Als das Gutachten ein paar Wochen später vorliegt, umfasst es mehr als 30 Seiten. Jedes Detail ist dokumentiert, die Reparaturkosten werden auf 625,08 Euro veranschlagt, der Wiederbeschaffungswert auf 250 Euro. Auf das Geld muss der Radler allerdings noch warten, denn der Unfallgegner streitet ab, dass es überhaupt einen Unfall gegeben habe. Erst nachdem der Zeuge seine Aussage wiederholt, lenkt die Haftpflichtversicherung ein und reguliert den Schaden. Ein paar Tage später sind die 250 Euro auf dem Konto. Nicht genug für ein neues Fahrrad, aber doch besser als nichts.


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